Die Reise des kleinen Käfers

Wenn ihr das nächste Mal einen Bernstein seht, denkt ihr vielleicht an diese Geschichte des kleinen Käfers zurück. Laura Benk hat diese schöne Reise geschrieben, perfekt für einen Leseabend mit der Familie.

Man kann es sich kaum vorstellen, aber vor vielen Millionen Jahren sah unsere Erde noch ganz anders aus. Die schöne Ostsee zum Beispiel gab es noch gar nicht und dort, wo heute Skandinavien liegt, war ein riesiger Urwald. Er sah mit seinen vielen unterschiedlichen Pflanzen aus wie der heutige Regenwald in Lateinamerika. Mitten in diesem riesigen Wald lebte ein kleiner Käfer. Er war für seine Art sehr klein, aber der Käfer war fest davon überzeugt, dass er noch größer werden würde. Schließlich war er noch ein sehr junger Käfer.

Der kleine Käfer hatte eine große Familie mit vielen Geschwistern, Tanten, Onkels, Cousinen und Cousins und auch viele Freundinnen und Freunde, die er alle sehr gerne hatte. Trotz dessen war der kleine Käfer am liebsten alleine unterwegs. Stundenlang krabbelte er mit seinen vielen Beinchen über den Boden des aufregenden Waldes. Auch wenn seine Beine sehr kurz und dünn waren, konnten sie sehr schnell sein und das mussten sie auch, denn in dem großen Wald gab es noch größere, böse Tiere, die am liebsten kleine Käfer aßen. Selbstverständlich hatte der kleine Käfer keine Lust, als Snack zwischendurch für irgendein Raubtier zu dienen, und deswegen machte er sich immer schnell aus dem Staub, sobald er auch nur die geringste Spur eines größeren Tieres bemerkte. Dabei stieß der kleine Käfer immer wieder auf neue Wege durch den unvorstellbar riesigen Dschungel. Natürlich wusste der Käfer, der im Gegensatz zu den hohen Bäumen so winzig war, dass man ihn kaum am Boden erspähen konnte, nicht, wie groß der Wald wirklich war. Aber er stellte sich gerne vor, dass er irgendwann einmal der erste Käfer sein würde, der den großen Wald durchquerte und dann als Held gefeiert werden würde. Leider machte ihm da seine Mutter einen Strich durch die Rechnung, weil sie ihm nämlich bloß erlaubte, bis zum Abendessen wegzubleiben.

Er stellte sich gerne vor, dass er irgendwann einmal der erste Käfer sein würde, der den großen Wald durchquerte und dann als Held gefeiert werden würde.

Obwohl er seine Familie sehr gerne hat, genau wie auch die Lichtung, auf der er in einem kleinen Baumloch mit ihr lebte, dachte er doch sehr oft an die Weiten der Welt und was sich da draußen noch alles versteckte. Der kleine Käfer sehnte sich danach, alles auf dieser Welt zu sehen. Er wollte neue, noch größere Pflanzen finden und neue, noch appetitlichere, kleine Insekten. Die Bäume auf seiner Lichtung und das immer gleiche Essen, was ihm seine Eltern servierten, langweilten ihn langsam. So zog der kleine Käfer also jeden Morgen los und kam erst kurz vor dem Abendessen wieder. Es gab eigentlich nur zwei Regeln, die er beachten musste. Regel Nummer 1: Sei pünktlich zum Abendessen wieder da, sonst sind Mama und Papa wütend. Regel Nummer 2: Klettere niemals, niemals auf die Bäume, die klebrig sind.

Foto: Midjourney

An einem sehr sonnigen Tag krabbelte der kleine Käfer also wie immer durch den Wald und bestaunte die vielen außergewöhnlichen Pflanzen. Er kletterte an den hohen Bäumen empor und genoss die atemberaubende Aussicht über unzählige weitere Bäume und den schönen blauen Himmel.

Der Käfer war schon sehr lange unterwegs, als er langsam Hunger und Durst bekam. Er lief also zu einer kleinen Pfütze, aus der er kristallklares Wasser schöpfte und fing sich ein kleines Tierchen, was er noch nie zuvor gesehen hatte. Das exotische Tierchen schmeckte ihm sehr gut und der kleine Käfer beschloss, eine Weile an der Pfütze zu rasten und zu dösen. Er schloss also seine kleinen Äuglein und war sofort eingeschlafen. Erst mehrere Stunden später erwachte der kleine Käfer plötzlich von einem gewaltigen Beben. Er erschrak und riss die Augen auf. Sofort blickte er sich um und eine eiskalte Gänsehaut lief ihm über seinen Panzer. Dort, nicht weit von ihm entfernt, lief ein riesiger Käfer mit unbeschreiblich vielen Beinen.

Foto: Midjourney

Bei jedem Schritt, den er mit seinen tausend Beinen machte, bebte die Erde. Zumindest für den kleinen Käfer. Seine Großmutter hatte ihm mal erzählt, dass diese Tierchen Tausendfüßler hießen und dass er sich unbedingt vor ihnen in Acht nehmen sollte, weil sie anscheinend liebend gern kleine Käfer wie ihn verspeisten. Oh nein, dachte der kleine Käfer und begann am ganzen Leib zu zittern. Plötzlich stoppte das Erdbeben, denn der Tausendfüßler war stehen geblieben. Er sah sich nach rechts und links um und erspähte dann den kleinen Käfer, der in diesem Moment schwören konnte, dass sein Käferherz kurz aussetzte. Der Tausendfüßler blieb kurz stehen, um zu realisieren, was er da gerade vor sich hatte. Dann rannte er los und hielt direkt auf den kleinen Käfer zu. Dieser drehte sich sofort auf der eigenen Achse, um panisch davonzulaufen. Mit seinen kleinen Beinen lief er um sein Leben und er musste aufpassen, dass er nicht hinfiel. Weil der Tausendfüßler ihn immer weiter einholte, achtete er gar nicht darauf, wo er langlief und als der kleine Käfer plötzlich einen Baumstamm vor sich hatte, fackelte er nicht lange und kletterte sofort hastig daran hoch.

Dort, nicht weit von ihm entfernt, lief ein riesiger Käfer mit unbeschreiblich vielen Beinen. Bei jedem Schritt, den er mit seinen tausend Beinen machte, bebte die Erde.

Der Tausendfüßler folgte ihm natürlich, aber zum Glück fand der kleine Käfer ein winziges Loch im Baum, in das er sofort hineinkletterte. Sein Verfolger war zu groß für das Loch. Er versuchte, seine Beine nach dem kleinen Käfer auszustrecken, aber sie waren zu kurz. Der kleine Käfer hatte sich im letzten Winkel des Baumloches verkrochen und schloss seine Augen. Er hoffte, dass dieser schreckliche Moment so schnell wie möglich vorbei sein würde. Warum ließ ihn dieser doofe Tausendfüßler nicht einfach in Ruhe? Nach mehreren vergeblichen Versuchen, seine Extremitäten in das Loch zu zwängen, gab der Tausendfüßler schließlich auf und kletterte den Baum hinunter. Der kleine Käfer konnte sein Glück kaum fassen und nach ein paar Minuten krabbelte auch er wieder zaghaft aus dem Loch und den Baum hinunter. Was er nicht bemerkte, war, dass im selben Moment aus einem Loch über ihm klebriger Baumharz lief. Langsam glitt die flüssige Masse an der rauen Rinde herunter und ehe er sich versah, klebte der kleine Käfer plötzlich darin. Er zappelte und versuchte sich zu befreien, aber es hatte keinen Zweck. Die klebrige Masse hatte ihn fest im Griff und sie wurde immer härter. Der kleine Käfer dachte an Regel Nummer Zwei: Klettere niemals, niemals auf die Bäume, die klebrig sind. In seiner panischen Angst vor dem Tausendfüßler war er einfach auf irgendeinen Baum geklettert, ohne wirklich darauf zu achten. Das hatte er jetzt davon. Der kleine Käfer wurde traurig. Nie wieder würde er seine Familie und seine Freunde sehen. Nie wieder würde er durch die Weiten des Dschungels streifen. Jetzt war er für immer in diesem Harzklumpen gefangen. Als das Harz endgültig fest geworden war, fiel es zu Boden und mit ihm der kleine Käfer. Dort blieb er auch für eine sehr lange Zeit liegen.

Foto: Midjourney

Was nun folgte, war eigentlich ziemlich langweilig, denn für die nächsten 300 Millionen Jahre passierte überhaupt nichts. Der kleine Käfer wusste nichts davon, aber mittlerweile war er der Einzige seiner Art, denn die Käferart, der er angehörte, war längst ausgestorben. Hoch oben im Norden schmolzen riesige Gletscher und das viele Wasser floss durch seinen Urwald. Irgendwann wurde der kleine Käfer in seinem Bernstein also von einer großen Wasserflut ergriffen und weggetragen. Er schwamm lange durch das süße Wasser, wurde immer hin und hergetrieben und entdeckte jeden Tag einen neuen Ort. Für eine lange Zeit blieb alles so wie immer, nur, dass das Wasser irgendwann salzig wurde. Das störte den kleinen Käfer aber kaum.

Auch wenn er nun in diesem goldenen Stein gefangen war, hatte er doch sein Ziel erreicht.

Eines Tages zog ein heftiger Sturm auf. Der starke Wind peitschte das Wasser hin und her und so auch den kleinen Käfer in seinem goldenen Gefängnis. Die hohen Wellen trugen ihn zu einem Strand. Ein Strand, der in sehr vielen Jahren mal an der schleswig-holsteinischen Ostsee liegen würde. Als der kleine Käfer kein Wasser mehr um sich herum spürte, öffnete er neugierig die Augen. Er fand sich in weichem Sand wieder, der von der Sonne erwärmt wurde. Der kleine Käfer sah auf ruhiges, blaues Wasser und atmete tief durch. Auch wenn er nun in diesem goldenen Stein gefangen war, hatte er doch sein Ziel erreicht. Er hatte einen neuen Ort entdeckt.

Über die Autorin

Die 18-jährige Laura Benk aus Heikendorf hat im August 2023 ein Schülerpraktikum in unserer Redaktion absolviert. Sie hat bereits zahlreiche Kurzgeschichten geschrieben, im März 2023 wurde sie mit ihrem Essay „All I want for Christmas: Weltfrieden“ im Rahmen des Europäischen Wettbewerbs mit dem Landespreis ausgezeichnet.

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